Gonsar Rinpotsche

Erscheinung und Leerheit

Erscheinung und Leerheit

Gonsar Rinpotsche

ISBN: 978-3-905497-26-7

Die sogenannte "Leerheit" oder Shunyata ist nur zu verstehen, wenn man genau nachvollziehen kann, wie uns die Dinge der "realen Welt" erscheinen. Dieser subtile Punkt der buddhistischen Philosophie wird oft gänzlich falsch, oder in einer unklaren, nicht nachvollziehbaren Weise beschrieben. Dieser Text ist wie das Öffnen einer Türe zu einem klaren Verständnis der Leerheit.

Textauszug:

Erscheinung und Leerheit sind zwei Begriffe, die in der Philosophie immer wieder erwähnt werden. Sie sind nicht nur in der buddhistischen Philosophie, sondern auch in unserem täglichen Leben von Bedeutung. In der buddhistischen Philosophie sind diese beiden Ausdrücke gleichbedeutend mit den Zwei Wahrheiten. Unter den Zwei Wahrheiten verstehen wir die konventionelle Wahrheit und die letztliche Wahrheit oder Wirklichkeit, in anderen Worten, Erscheinung und Leerheit.

Die Zwei Wahrheiten sind ein sehr tiefgründiges und umfassendes Thema. Allgemein gesagt ist alles, was existiert, in den Zwei Wahrheiten enthalten. Die weitreichenden Unterweisungen des Buddha beruhen alle auf diesen beiden Punkten.

Wir fragen uns vielleicht, was die Zwei Wahrheiten sind und warum Buddha zwei und nicht nur eine Wahrheit gelehrt hat. Der Grund dafür liegt in der Art und Weise, wie die Phänomene existieren. Alle Phänomene, aber auch die Existenz selbst haben diese zwei Aspekte, einen konventionellen und einen letztlichen Aspekt.

Buddha hat diese Zwei Wahrheiten nicht erfunden, sondern sie lediglich entsprechend der natürlichen Art und Weise, wie die Phänomene existieren, erklärt.

Alle Phänomene, ob Lebewesen, belebte oder unbelebte Objekte, alles Positive oder Negative, ob gewöhnliche Wesen oder erleuchtete Wesen, ob Buddhaschaft oder zyklisches Dasein, alles besitzt diese zwei Aspekte. Buddha selbst hat einen konventionellen und einen letztlichen Aspekt ebenso wie gewöhnliche Wesen, Menschen, Tiere und alles, was existiert, bis zu den kleinsten Partikeln. Das zu erkennen ist der wichtigste Schritt zur Weisheit, die ein Wesen vom Leiden befreit und zur Befreiung führt.

Diese Zwei Wahrheiten oder Aspekte der Phänomene fehlerfrei zu erkennen ist der allerwichtigste Punkt der Weisheit. Aus einem falschen Verständnis dieser beiden Wahrheiten entstehen Unwissenheit und Verblendung. Daraus ergeben sich dann viele falsche Handlungen, und als Resultat kreisen die Wesen im zyklischen Dasein. Denn die Wurzel des zyklischen Daseins ist die Unwissenheit, besonders die Unwissenheit über diese zwei Aspekte der Phänomene, die Zwei Wahrheiten. Buddha hat diese beiden Wahrheiten nicht erklärt, weil es ein interessantes philosophisches Thema ist oder weil sich seine Lehre von derjenigen früherer Philosophen unterscheiden sollte. Grund für die Erklärungen über die Zwei Wahrheiten ist einzig, die Lebewesen vom Leiden, den Ursachen des Leidens zu befreien und sie zu wahrem Glück zu führen. Das ist die einzige Absicht, die Buddha mit seinen Unterweisungen verfolgte, nicht nur mit den Unterweisungen über die Zwei Wahrheiten, sondern mit allen seinen Unterweisungen. Was immer Buddha gelehrt hat, beruht auf der Grundlage des Großen Erbarmens, auf der Absicht, die Lebewesen von allen Leiden zu befreien.

Denn wenn wir nach der Essenz des Buddhismus fragen, sind das weder die Erleuchtung noch die Buddhas oder andere außergewöhnliche Phänomene, sondern die Lebewesen. Bei allem, was Buddha erklärt, ob philosophische Aspekte oder Aspekte der Meditation, Ethik, Rituale und so weiter, ist der Zweck immer das Wohl der Lebewesen. Alles, was Buddha gelehrt hat, steht im direkten Zusammenhang mit den Lebewesen, ihrem Leiden und ihrem Glück. Und wenn wir von den Zwei Wahrheiten sprechen, bezieht sich auch das auf die Situation der Lebewesen.

© 25.03.24 Rabten Choeling • ImpressumDatenschutz